Fette Welt
Spielfilm, 1998, Locarno Film Festival.
Eine Produktion von Polygram Filmed Entertainment, Günter Rohrbach, MTM Cineteve und der Novoskop Film.
Story
Sie küssen und sie schlagen sich, sie lieben und sie töten sich: Hagen Trinker und die anderen, Penner und Junkies, Männer und Frauen. Sie leben in München, unter der Brücke, im Rohbau. Manchmal ist ein Sessel ihr Zuhause, manchmal eine Zeitung ihre Matratze. Aber meist sind sie sowieso unterwegs, auf der Straße, in Einkaufspassagen, auf dem Bahnhof – ohne Ziel und ohne Illusionen.
Um Hagen herum: lauter Seelenverwandte. Edgar, der die drogensüchtige Liane liebt und vom Leben mit ihr in der Sonne träumt; Edda, die dralle Straßenmutter, die Hagen die Hose auf- und das letzte Geld abknöpft; Gustl, der kochende Philosoph und »Botschafter«, der den Wecker stellt, als ob jeder neue Morgen nicht sowieso kommt wie der letzte.
Eines Tages taucht Judith auf. Sie stammt aus Berlin, ist 15 und aus ihrem überbehüteten Elternhaus in die Gegenwelt geflohen. Alle nehmen sie freundlich auf – nur Hagen nicht. Doch Judith schafft es, seinen emotionalen Panzer zu sprengen. Hagen verliebt sich in sie. Zum ersten Mal seit langem hat er das Gefühl, dass es jemanden gibt, für den sich das Überleben lohnt. Ein Märchen beginnt und im nächsten Moment ist es auch schon wieder zu Ende. Die Polizei entdeckt Judith und bringt sie zu ihren Eltern zurück nach Berlin. Hagen will sich diesmal jedoch nicht mit seinem Schicksal abfinden …
Ein Film über Einsamkeit und Existenzangst. Statt lauthals Sozialkritik zu üben, wird einfach gezeigt, wie es ist – und das mit realistischem Witz. Dass das so gut funktioniert, ist nicht zuletzt den Hauptdarstellern zu verdanken.
Jan Schütte über FETTE WELT
Das besondere Umfeld, das die Liebesgeschichte von Hagen und Judith so sehr bestimmt, erfordert eine spezielle Herangehensweise. Immerhin ist Obdachlosigkeit trotz seiner zunehmenden Bedeutung kein klassischer Hintergrund für eine Kino-Lovestory. Der Film spielt hier und jetzt. So haben wir bewusst auf erklärende Rückblenden verzichtet. Eine Schwierigkeit war, dass wir viel an öffentlichen Plätzen drehen mussten: im Bahnhof, auf der Straße, etc. Wir haben also in gegebene Orte hineininszeniert.
Von Anfang an hatte ich mir FETTE WELT nur mit Jürgen Vogel vorstellen können. Er gab in den entscheidenden Szenen der Figur Hagen die notwendige physische Präsenz.
Crew
- Regie / Jan Schütte
- Drehbuch / Klaus Richter, Jan Schütte
- Casting / Risa Kes
- Kamera / Thomas Plenert
- Ton / Eckhard Kuchenbecker
- Ausstattung & Kostüm / Katharina Wöppernmann
- Schnitt / Renate Merck
- Musik / Laurent Petitgand
- Songs / Rio Reiser, Ivo Robic
- Produktion / Günter Rohrbach, Peter Herrmann
Cast
- Hagen Trinker / Jürgen Vogel
- Judith / Julia Filimonow
- Tom / Stefan Dietrich
- Liane / Sibylle Canonica
- Edgar / Lars Rudolph
- Gustl / Thomas Thieme
- Edda / Ursula Strätz
- Botschafter / Jürgen Hentsch
- Stalin / Franz Stangl
- Broscheck / Ernst Stötzner
Kritik, Rüdiger Wenk, WOCHENZEITUNG, 27.1.1999
FETTE WELT – Deutsches Obdachlosen-Drama
In Filmen sind sie entweder rührende Jammergestalten, versoffene Witzfiguren oder einfach nur eine Gelegenheit für die Hauptdarsteller, ihnen gegenüber besonders böse oder besonders edel zu sein. Regisseur Jan Schütte macht jene, die wir abfällig »Penner« oder politisch korrekt »Wohnsitzlose« nennen, zu den Hauptfiguren eines berührenden Dramas.
Man kann sie kaum in einen Topf schmeißen: Obdachlos wird man aus den unterschiedlichsten Gründen, manchmal aus freiem Willen, aus Drogensucht, aus Unfähigkeit, die Zwänge des Lebens in unserer Gesellschaft zu ertragen. Die meisten von uns angepaßten und vergleichsweise wohlhabenden Menschen bekommen von ihrer Welt nicht viel mit: Wir sehen sie betteln, im Müll wühlen, im Suff herumpöbeln oder in stillem Elend scheinbar vor sich hinvegetieren. Unseren Blick richten wir nur Momente auf sie – um ein paar Groschen zu geben, betroffen wegzulaufen oder angewidert den Kopf zu schütteln. Jan Schütte richtet unseren Blick nun bewußt in ihre Welt und nimmt als Basis seiner Geschichte ein Buch von Helmut Krausser, der selbst ein »Penner« war.
Hauptfigur ist, nomen est omen, Hagen Trinker (Jürgen Vogel). Sein Name klingt wie ein schlechter Witz und sein Leben ist genauso: Ständig betrunken lebt er mit seinen Schicksalsgenossen in einem Rohbau, um sich vor der Oktoberkälte zu schützen: Die anderen haben Illusionen, Hagen hat seine Sehnsüchte ertränkt und trinkt weiter, damit sie nicht wiederkommen. Der junge Edgar (Lars Rudolph) zum Beispiel will »alles tun« für die heroinsüchtige Liane (Sibylle Canonica), folgt ihr wie ein Hund. Tom (Stefan Dietrich) träumt von Cambridge und Edda (Ursula Strätz) weiß genau, wie sie Hagen die letzten 30 Mark aus der Tasche ziehen kann. Doch da tacht plötzlich die 15jährige Ausreißerin Judith (Julia Filimonow) auf. Hagen verliebt sich in sie, will sie aber in ihre Welt zurückschicken.
»Liebe gibt es nur im Kino!« blafft er sie an, als sie ihm die Erwiderung seiner Gefühle gesteht. Dennoch finden sie zueinander. Das eben begonnene Märchen ist jedoch bald jäh zu ende, sie werden getrennt. Hagen weiß, daß er sie nur wiederfinden kann, wenn sein selbstgewähltes Leben eine Wende nimmt. Er nimmt noch einmal den Kampf auf …
FETTE WELT ist ein Film über eine unmögliche Liebe und eine fremde Welt, die direkt neben unserer eigenen existiert. Mit sicherer Hand inszeniert und einem hervorragenden Ensemble versehen, umschifft er die Klippen von Klischees und Heuchelei und erzählt eine berührende, teils wahre Geschichte von Menschen, die uns näher sind, als wir wahrhaben wollen.
Kritik, Jörg Böckem, DIE WOCHE, 29.1.1999
»Der Regisseur Schütte verzichtet auf Knalleffekte, er erzählt die Geschichte des Exils auf der Straße samt anrührender Lovestory in zurückhaltenden, ruhigen Bildern. Wie in Kraussers Vorlage sind die Figuren keine Abziehbilder, sondern authentische Charaktere, die sich zwischen Resignation, Wut und Irrsinn bewegen. Eingebettet in eine würdevolle Milieustudie beschreibt der Film so die kleinen Begegnungen des Lebens, die große Veränderungen bewirken, mit beachtlichem, filmischen Geschick.«
Interview, SUBWAY
Glauben an intelligente Unterhaltung
Regisseur Jan Schüttes Ausflug ins Penner-Milieu – FETTE WELT
Mit seinem Kinodebüt DRACHENFUTTER machte Jan Schütte in Venedig einst Furore. Dem preisgekrönten Asylanten-Drama folgte die hintersinnige Heimat-Komödie WINKELMANNS REISEN. Mit der lakonisch komischen Emigrantengeschichte AUF WIEDERSEHEN AMERIKA war Schütte in Cannes vertreten. Nun präsentiert der 41jährige mit FETTE WELT eine Liebesgeschichte im Obdachlosenmilieu, in der Hauptrolle Jürgen Vogel. SUBWAY sprach mit dem Regisseur.
SUBWAY: Penner-Milieu statt Yuppie-Wohnküchen? Sind Sie der Don Quichotte im Kino-Komödienland?
Jan Schütte: Wenn man sich die Ergebnisse so anschaut, sind doch eher die anderen die Don Quichottes. Meine ersten drei Filme haben sich kommerziell sehr gut verkauft, auch international. Der kleine Film DRACHENFUTTER wurde in 30 Länder verkauft. Das ist viel kommerzieller als mit Riesenaufwand und 3 Millionen Mark einen Film ins Kino zu bringen, der nur 500.000 Besucher macht. Schließlich zählt am Schluß nur das, was unterm Strich übrig bleibt – und da liege ich gar nicht schlecht.
SUBWAY: Ein Film über kleine Leute und Alltag ist zunächst aber weniger attraktiv als eine flotte Komödie …
Jan Schütte: Ich glaube noch an intelligente Unterhaltung. Ich finde es eher riskant, heute noch irgend so eine Beziehungskomödie zu machen. FETTE WELT behandelt ein existentielles Thema. Zudem ist es einfach spannender, sich in extremen Zonen zu bewegen, als in der Mitte der Gesellschaft. Das lässt sich im internationalen Kino ähnlich beobachten: zugespitzte Situationen sind allemal interessanter als das Durchschnittliche.
SUBWAY: Ein Obdachlosenfilm klingt gefährlich nach Sozialarbeiterkino …
Jan Schütte: Obdachlosigkeit ist eine Sache, an der viele vorbeischrammen. Eine Pleite, eine Scheidung, und schon sitzt man auf der Straße. Das sind Probleme, die jeden betreffen können. Aber mir geht es weniger um so ein Außenseiterdrama. Mich interessieren die Geschichten und die Menschen. In diesem Fall erzählen wir eine Liebesgeschichte: da ist ein Junge, der mit allem abgeschlossen hat und eigentlich nichts mehr will vom Leben – ein untypischer Filmheld also. Als er bemerkt, dass er sich verliebt, passiert etwas mit ihm. Damit kommen ganz viele Sachen in Bewegung. In diesem Umfeld passiert alles sehr direkt, alles ist greller und chaotischer als in der normalen Welt. Die Verzweiflung ist größer, ebenso der überlebenskampf. Aber auch die emotionalen Ereignisse sind größer.
SUBWAY: Wie weit ging die Recherche im Penner-Milieu?
Jan Schütte: Grundlage war der Roman. Zudem haben wir viele eigene Recherchen angestellt. Ich habe mich intensiv mit vielen »Pennern« in München unterhalten. Und auch viele Statisten kommen aus dem Milieu. Wir hatten im Ensemble eine schöne Mischung aus Laien, Profis und echten Obdachlosen – das fand ich schöner, als sieben Staatsschauspieler zu engagieren, die nun mal einen Penner mimen.
SUBWAY: Wie bereitet sich Jürgen Vogel auf so eine Rolle vor – lebt er wochenlang auf der Straße a la Robert DeNiro?
Jan Schütte: Jürgen hat ja selbst eine sehr bewegte Biographie. Er hat mir einmal gesagt, er sei seit 15 Jahren beim Film, da hätte er genügend Penner kennen gelernt. Jürgen spielt den Hagen Trinker mit einer selbst für ihn ungewöhnlichen physischen Präsenz. Eine Fähigkeit, über die in Deutschland nicht viele verfügen. Seine Besetzung war keine Frage, sondern eine Grundvoraussetzung für den Film.
SUBWAY: Der Held heißt Hagen Trinker – ist das nicht ein bisschen platt?
Jan Schütte: Zugegeben, das ist schon ein bisschen grenzwertig. Aber der Held hieß im Roman schon so, deshalb haben wir das beibehalten. Ein wenig Respekt muss man der Vorlage schon zollen. Schließlich gibt es eine ganze Hagen Trinker-Trilogie.
SUBWAY: Welchen Einfluss hatte der Romanautor Helmut Krausser auf den Film?
Jan Schütte: Krausser hat das Drehbuch gelesen und einige Kommentare dazu gemacht. Aber er hatte keinen direkten Einfluss auf das Projekt. Vom fertigen Film war er ganz angetan. Wobei es natürlich immer schwierig ist für einen Autoren, seine Phantasien auf Leinwand zu erleben.
SUBWAY: Auch Detlev Buck hat einen Penner-Film gemacht – war das ein Wettrennen beim Drehen?
Jan Schütte: Die Nachricht tauchte irgendwann einmal während der Dreharbeiten auf. Dann sagen alle, um Gottes willen, da müssen wir mit unserem Filmstart möglichst weit weg davon kommen. Das haben wir auch gemacht. Kurz vor der Berlinale haben wir einen ganz guten Starttermin, da bleibt noch Luft, damit sich der Film im Kino entwickeln kann. Den Buck habe ich selbst noch gar nicht gesehen.
SUBWAY: Schüttes Film-Philosophie?
Jan Schütte: Ich mag das Geschwätzige nicht sehr. Weglassen funktioniert meist besser als Auszuwalzen. Man muss ja nicht immer mit einem bombastischen Feuerwerk die Zuschauer niederschmettern. Man kann auch mit sehr kleinen, elliptischen Erzählformen arbeiten, ohne dabei auf die Nähe und die Gefühle für die Figuren zu verzichten. Mit solchen kleinen Momenten lässt sich eine viel intensivere Stimmung erreichen als mit dieser gigantischen Gefühlssauce. Ohne mich vergleichen zu wollen, aber WARTEN AUF GODOT ist doch auch Entertainment. Ich mache lieber Filme darüber, wie ein Mann seinen Hund ausführt als über den Kaiser von China.
SUBWAY: Ihr Ratschlag für Kinogänger, was soll das Publikum erwarten, »Jürgen rennt«?
Jan Schütte: Eher »Jürgen steht«, im Ernst: erwarten sollten die Zuschauer einen schönen warmen Film über eine Welt, die man selten sieht. Und freuen kann man sich auf einen sehr spannenden und aufregenden Jürgen Vogel.
Quelle: http://www.subway.cc/magazin/1999/02jan.shtml
Interview: Dieter Oßwald