Verloren in Amerika

Dokumentarfilm, 1988, Oberhausen Film Festival.

Eine Produktion der Novoskop Film im Auftrag des ZDF 1988.

Film still

Story

Auf eisernen Stelzen rattert die Hochbahn über die Hauptstraße und taucht den Asphalt in ein Gitternetz von Licht und Schatten. Zwischen den Backsteinhäusern aus den 20er Jahren schaut man auf den nahen Atlantikstrand.

Brighton Beach liegt versteckt im südöstlichsten Zipfel Brooklyns, hinter den Achterbahnen von Coney Island, eine Stunde U-Bahn Fahrt von Manhattan entfernt, und jeder kennt es nur als Little Odessa.

Es ist eine ganz und gar europäische und jüdische Gegend, ein Stadtteil von neuen und alten Immigranten. Der Film porträtiert drei von ihnen: eine junge russische Familie, die gerade erst aus der Ukraine gekommen ist, den Hamburger Juden Irving Lancart, der den Krieg in Shanghai überlebt hat und jeden Abend auf dem Boardwalk steht und über den Atlantik auf Europa »schaut«, sowie Abraham Herzhaft aus Jeschuw in Polen, der mit fünfundsiebzig immer noch mit seinem Rennrad über die Brighton Beach Avenue fährt und in seiner Küche »gefillte fish« kocht.

Was ist aus Emigranten geworden, die Deutschland einmal verlassen mussten? Wir wissen viel vom Schicksal der Künstler, die emigriert sind, wenig von dem der ganz gewöhnlichen Leute. – Ein Film über die Abwesenheit von Heimat.

Die beiden Porträtierten wurden die Vorbilder für Moshe und Isaac in AUF WIEDERSEHEN AMERIKA.

Film still
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Crew

  • Regie / Jan Schütte
  • Kamera / Bernd Meiners
  • Ton / Wolfgang Schuhkrafft
  • Schnitt / Renate Merck
  • Musik / Claus Bantzer
  • Redaktion / Beate Pinkerneil
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Protagonists

  • Irving Lanchart
  • Abraham Herzhaft
Film still
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Kritik, Joachim Hauschild, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 12.7.1989

Eine halbe Stunde ist nicht viel Zeit, um uns Menschen, Schicksale gar, vorzustellen. Man kann sie verplempern, zuquatschen mit Informationen, die keine sind, wie Wolf von Lojewski, man kann sie nutzen wie Jan Schütte, indem man sich einläßt auf diese Menschen, indem man ihnen Raum gibt. (…)

Bei Jan Schütte wird nicht geredet, es wird gesprochen. Auch hier gibt es Off-Texte, die über Bilder gelegt sind. Doch sie vermitteln nur knappe Fakten über Brighton Beach, anderthalb Stunden von Manhattan entfernt, wo es niemanden gibt, »der nicht aus Europa kommt«. Dann aber läßt Schütte SEINE Menschen erzählen: Abraham Herzhaft, der polnische Jude, bereitet »gefillte Fisch« und dabei rollt ein ganzes Leben vorbei, eine Odyssee durch die Welt, Sibirien eingeschlossen. Frau Maria, seit 27 Jahren in New York, spricht kein Wort Englisch. Eine stille Beobachtung, ein einziger Satz umreißt eine Situation. Brighton ist ein Getto, auch für die junge russische Familie aus Odessa, die hier ein neues Leben anfangen will, aber dann: raus.

Raus will auch Irving Lanzhart; in Hamburg ist er geboren, er wurde deportiert, kam über Japan hierher. Jetzt will er zurück nach Deutschland. Der Antisemitismus wächst in Amerika, sagt er. Das letzte Bild zeigt ihn durch eine Scheibe, isoliert vor seiner Tasse Kaffee: verloren in Amerika. Das ist auch ein Stück über die Ökonomie der Mittel.